(Diesen Text hat Ulrich Pramann für die aktuelle Ausgabe Wanderbares Deutschland 2018 geschrieben.
Wir vier waren einfach nur froh. Ein perfekter Morgen. Es ging in den ersten Stunden immer schön am See lang. Die Sonne
drückte schon heftig auf die Tube, meist aber spendeten uns mächtige Bäume angenehm Schatten. Es war zunächst gar nicht
so leicht, diesmal einen gemeinsamen Wandertermin zu finden. Aber jetzt freuten wir uns auf die nächsten Tage, aufs
Unterwegssein, aufs Beisammensein. Wir wussten ja schon aus Erfahrung, dass eine Wanderung mehr ist als die Summe
ihrer Schritte.
Es ist geschenkte Zeit.
Der alte Johann Gottfried Seume hat recht mit seiner Erkenntnis: »Wer geht, sieht im Durchschnitt mehr, als wer fährt.
Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstverständlichste und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde,
wenn man mehr ginge.« Und es stimmt auch: Ab und zu muss man mal das Weite suchen, um das Naheliegende zu
finden. Nur wer sich bewegt, verlässt seinen Standpunkt.
Wir waren diesmal auf dem »SeeGang« unterwegs, am Bodensee. Drei Wanderetappen. Insgesamt 53 Kilometer von
Lindau über Wallhausen und Ludwigshafen-Bodmann, vorbei an der nackten und üppigen Yolanda der Künstlerin Miriam Lenk
(siehe Seite 10/11). Das Ziel war Überlingen. Wir waren unterwegs auf Naturwegen, schmalen Pfaden und auch bevölkerten
Promenaden, tippelten durch Dörfer, Wälder und machten auch Höhenmeter. Und immer wieder diese beeindruckenden
Aussichten auf den Bodensee.
Was hinzukam: diese Intensität der Wahrnehmung, auf Schritt und Tritt. Den Körper spüren. Die Zeit vergessen. Den eigenen
Gedanken nachhängen. Dann auch mal ein kurzer Gedankenaustausch mit Pit, mit Bernd oder mit Udo. Meist aber ging es nur
darum, einfach zu gehen. Das eigene Tempo gehen. Ja, und auch mal in sich gehen.
Von John Muir, dem amerikanischen Naturphilosophen, ist eine stimmige Erkenntnis überliefert: »Bei jedem Schritt in der
Natur bekommt jemand weit mehr, als er sucht.«
Mit der Poesie des Wanderns hätten man uns früher nicht kommen dürfen. Wandern war – na ja – nichts, was besonders
attraktiv schien. Stimmt’s, dem einen oder anderen sind – ach was, den meisten sind die Wanderausflüge von früher noch in
unguter Erinnerung. Mir auch. Wenn der Papa sonntagmorgens mit einem fabelhaften Plan frohlockte: »Ach, wandern wir
heute doch mal wieder! Lieber zur Hanskühnenburg oder zum Großen Knollen?« Pah. Blöde, öde Idee. Wie langweilig.
Unterwegs fragten wir hundertmal: »Wie weit isses denn noch?« Und der Papa flunkerte jedes Mal. Von wegen noch eine Kurve,
und dann sind wir da.
Nee, Wandern – das war alles andere als eine beliebte Freizeitbeschäftigung, damals in den Kindertagen. Für uns Kinder nicht,
aber auch für die wenigsten Großen.
Wandern? Welcher Film lief da im Inneren ab? Flottes Marschtempo, Kniebundhose, rote Strümpfe, karierte Schwitzhemden
und eine spießige Einkehr irgendwo – wenn es gut lief. Wenn es weniger gut lief, gab es unterwegs Käsebrote.
Meine Güte, und jetzt, viele Jahre später, ist Wandern für uns so eine Wohltat geworden.
Meine Güte, dachte Ute Dicks ein ums andere Mal, als sie sich letztes Frühjahr in Kassel durch über hundert Jahre Wandergeschichte
wühlte. Die Geschäftsstelle des Deutschen Wanderverbands stand vor ihrem Umzug, und zusammen mit ihrem Team hatte sie sich
vorgenommen, zuvor nochgründlich auszumisten. Tatsächlich wurden dann auch 6,6 Tonnen Papier entsorgt. Und dennoch zogen
595 Kartons mit um, inklusive Archiv des Verbands, der vor 135 Jahren gegründet wurde.
Viele der alten Fotos, Protokolle und Veröffentlichungen sind ihr also noch einmal in die Hände gefallen, und für Ute Dicks bestätigte
sich dramatisch und besonders anschaulich, wie sehr sich Wanderbewegung im Laufe der Jahre gewandelt hat. Wie vornehm, ja dandyhaft
die modische Attitüde mancher Wandersleut’ ganz früher mal war, inklusive Clubjacken und Knickerbocker. Und wie unpraktisch es
für Wanderdamen wohl gewesen sein muss, wenn sie – angetan in langen Kleidern – durch Wälder streiften. Wie klobig das Schuhwerk
war und wie ein so nützliches Transportutensil wie der Rucksack besonders in den letzten Jahren immer mehr optimiert wurde.
»Oh ja«, sagt Ute Dicks zusammenfassend, »die Wanderbewegung hat sich doch wirklich erstaunlich entwickelt und rasant gewandelt.«
Einige Dokumente – zur Entwicklung des Schulwanderns,historische Plakate und zum Beispiel die Eichendorff-Plakette,
die einst Bundespräsident Karl Carstens dem Deutschen Wanderverband für 100-jähriges Engagement verliehen hat – sind von Kassel
unlängst nach Nürnberg gewandert. Denn dort bereitet das Germanische Nationalmuseum gerade eine Sonderausstellung vor: »Wanderland.
Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns«, die am 29. November 2018 eröffnet und bis zum 28. April 2019 gehen wird.
Wie kam es, dass Wandern heute weit mehr ist als eine sportive Freizeitbeschäftigung? Manchesagen j a sogar, Wandern wäre jetzt
Trendsport der Intellektuellen, der Dynamischen, der Jungspunde.
Für die Bloggerin Lina Luftig, selbsternanntes »hiking girl aus München«, ist Wandern »sexy«. Und sie folgert: Was sexy ist, »wird auch
geshared« (also in den sozialen Netzwerken geteilt). Sie schwärmt übers Wandern: In Communitys wie Facebook-Gruppen oder sogar
auf Singlebörsen sind Gleichgesinnte jeder Altersgruppe schnell ausfindig gemacht. Dem Gemeinschaftserlebnis – geplant oder auch
spontan – steht dank globaler Vernetzung nichts mehr im Wege.
Was die eigentlich unspektakuläre, aber auch unkomplizierte Gangart so massentauglich und attraktiv macht: Flexibilität. Wenn ich will,
kann ich über meine Grenzen gehen, mich mit anderen bei Wandermarathons messen. Ich kann es aber auch ganz gemütlich angehen.
Und Wandern als Ausgleich zum stressigen Alltag nutzen. Wie wir.
Wandern ist sexy? Selbst das Handelsblatt kennzeichnet den Retrosport Wandern – mit Blick auf den Umsatz der Sportartikelindustrie –
als »sexy«. Aber auch, weil die moderne Generation Wanderer natürlich eher modisch-funktionell aus dem Haus in die Natur geht, farbenfroh,
figurbetont – was eben auch ein bisserl sexy sein kann.
Na gut, ein attraktives Outfit, das ist das eine. Manche nennen Wandern heute ja »Trekking« oder »Hiking«, jedoch Anglizismen allein
bringen’s natürlich noch nicht. Aber was dann? Längst ist klar, dass Wandern gesund ist, ein idealer Wellnesssport also. Und ein weiterer
Auslöser (»Trigger«) für die steigende Wanderlust und warum Wandern nicht mehr Old School, sondern anziehend und angesagt
(also sexy) ist, hat mit all den Büchern zu tun, die auf den Markt gekommen sind.
Ganz besonders Hape Kerkeling hat vor zehn Jahr enden langen Weg seiner Selbstfindung, seinen 41-Tage-Trip auf dem Jakobsweg,
so ehrlich, witzig und hintergründig beschrieben. Sein Titel »Ich bin dann mal weg« hat Millionen Leser inspiriert. Mir fallen mindestens
noch ein halbes Dutzend Autoren ein, die das moderne Abenteuer Wandern aus den Niederungen der Banalität geholt und viel mehr
als Tippelliteratur geliefert haben.
Einer wie Manuel Claus Achim Andrack (»Du musst wandern«, »Das neue Wandern«) hat seine wachsende Wanderlust vor allem in
deutschen Mittelgebirgen ausgetobt. Der »Welt«-Journalist und Autor Dirk Schümer verarbeitete seine neue Leidenschaft für eine alte
Fortbewegungsart humorvoll als langen Marsch des Wanderns durch die Evolution: »Zu Fuß. Eine kurze Geschichte des Wanderns«.
Er lieferte übrigens auch eine simple Erklärung für den Wanderboom. »In einer Hinsicht ist Wandern genau wie Sex: Es erscheint als
eine ganz einfache, natürliche Angelegenheit, für die man außer etwas Zeit keine Ausrüstung benötigt.«
Na ja, gutes Schuhwerk wäre nicht schlecht – jedenfalls für jene, die wandern wollen.
Einer wie Andreas Altmann (»34 Tage, 33 Nächte«) ging mit 2,77 Euro in der Tasche in Paris los – nach Berlin. Wie er sich auf seiner
Fußreise durchschnorrte, erzählt viel von ihm, seinen körperlichen und seelischen Höhen und Tiefen, aber auch von unserer Gesellschaft.
Einer wie der Abenteurer und Filmemacher AndreasKieling (»Ein deutscher Wandersommer«) erkundete zusammen mit seiner treuen
Hündin Cleo seine Heimat. Die Bilanz nach 1400 Kilometern Fußmarsch: »Emotional war das die stärkste Unternehmung, die ich
je gemacht habe.«
Der Journalist Wolfgang Büscher fühlte sich schon mehrfach zu Extremtouren getrieben und machte daraus sehr Lesenswertes:
»Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß«, »Deutschland – eine Reise« und »Hartland – zu Fuß durch Amerika«. Er nimmt mit auf strapaziöse
Wanderschaften, erzählt sinnlich kleine und große Storys, reflektiert und bringt zum Klingen, was unbewusst in vielen schlummert:
die Lust auf Abenteuer und Draußensein, den Aufbruch ins Unbekannte
wagen, den Mut, sich spannenden Situationen auszusetzen und nicht bequem dem Leben aus dem Weg zu gehen.
Ach so, zum Schluss muss er doch noch unbedingt ins Spiel kommen. Goethe, der unvermeidliche Goethe. Denn auch diese Weisheit
von ihm ist einfach genial: »Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen.«